Leseprobe Magisches Viertel

1.

EINES WUNDERSCHÖNEN SOMMERS

 

 

Noah hatte Glück, er hat eine Zweizimmerwohnung im sogenannten Szeneviertel Hamburg Ottensen. Vollgestopft mit großformatigen Ölbildern, eine regelrechte Museumswohnung, in der das Wohnzimmer in zwei Bereiche geteilt ist, in einen Wohn- und einen Malbereich. Hier malt er seit seinem abgeschlossenen Kunststudium, und es riecht immer nach Ölfarbe, die Möbel sind voller Farbspritzer und es sieht alles nach einer gewissen Bohème aus. Die ganze Wohnung ist ein einziges großes Gemälde, es war schon immer sein größter Wunsch, in einem großen Bild zu leben, und nun ist es Realität geworden.

Die Augustsonne brennt. Das Jahr 2009 atmet noch die Luft der Finanzkrise, die auch das Leben der etablierten Künstler erschwert haben soll. Ihre Bilder verkaufen sich nicht mehr für 300 000 Euro, nur noch für 150 000 oder noch weniger. Pech für Sotheby’s und wie die Häuser alle heißen. Für Noah ändert sich dadurch natürlich gar nichts, aber auch die Ängste der Otto Normalverbraucher haben zugenommen und nun kaufen sie noch weniger bezahlbare Kunst, vor allem, seit Ikea und Aldi ebenfalls in Kunst machen.

Ein Besuch seines alten Freundes Charles steht an. Ein waschechter 68er, der sich nie einer politischen oder künstlerischen Gruppe angeschlossen hatte, Fotograf und Philosoph. Ein Einzelgänger. Er klingelt schon an der Tür.

„Komm, lass uns ein paar Fotos machen“, sagt er gleich beim Reinkommen, „es ist herrlich draußen!“

„Gerne, aber erst die Stärkung.“

Der Gastgeber serviert den gekühlten Chardonnay. Außerdem präsentiert er dem älteren Freund ein neues Bild. Ein großformatiges, farbenprächtiges Bild mit abstrahierten Blumen.

„Und?“, fragt er aufgeregt, auch wenn er sich geschworen hat, nie wieder jemanden um seine Meinung zu einem seiner Bilder zu bitten. Damit hat er meist schlechte Erfahrungen gemacht. Aber Charles’ Meinung zählt, egal was er sagt.

„Ja.“

„Ja was?“

„Es gefällt mir!“

Wenn Charles das sagt, dann meint er es auch so. Dann folgt etwas, das typisch ist für Charles, der nie ein Blatt vor den Mund nimmt:

„Du stinkst nach Schweiß.“

Hamburger Schule, direkt und undiplomatisch. Nur die Wahrheit, nichts als die heilige, nackte Wahrheit!  

5 Stunden in glühender Hitze gemalt, kein Wunder. Wer will schon Ihre Heiligkeit mit Namen Muse einfach so unterbrechen, wegen ein paar läppischer Schweißtropfen? Jetzt erinnert sich der Künstler, wie er sich in den letzten Stunden gefühlt hatte: wie beim Duschen, nur ohne Wasser.

Er springt schnell unter die Dusche und sie gehen hinaus in die brennende Sonne.

„Wie heißt nun das neue Bild?“, fragt Charles.

„Überschwemmte Wünsche blühen wieder auf.“

Der alte Freund sagt nichts dazu. Vielleicht zu lyrisch für ihn, er mag weder Lyrik noch andere Sentimentalitäten, dafür hat er zu viel Übles in seinem Leben erlebt. Möglicherweise stirbt die Empfänglichkeit für Lyrik ab 55. Aber da ist Hoffnung drin, hätte Noah fast noch hinterhergeschickt, doch er lässt es lieber bleiben, man kann ja nicht immer nur Lob kriegen. Der Titel ist schließlich nicht so wichtig, Hauptsache, das Bild selbst gefällt Charles.

Die zwei schießen einige Fotos, meist künstlerische Porträts von Noah, der sei sehr fotogen, sagt Charles oft. Entlang der Ottenser Hauptstraße nehmen sie jede urbane Ecke dieses Stadtteils vor die Linse. Die Passanten gucken neugierig zu. Besonders die jungen Mädchen.

„Mit einer Kamera lockst du sie immer“, grinst Charles mit altehrwürdigem kessem Lächeln, „was glaubst du, warum ich immer mit der Kamera rumlaufe.“

Aha! Viele seiner Geschichten gehören in die seligen 70er Jahre, die Kamera war tatsächlich eine Wunderwaffe in der Kunst, das weibliche Geschlecht, besonders das junge, anzuziehen, und sie ist es immer noch. Die gestreiften Sakkos, die die beiden Künstler tragen, steigern das Interesse noch mehr. Noah macht immerzu allerlei Faxen und wirft sich exaltiert in Pose, doch das nervt Charles, „bleib einfach so, wie du bist, und guck nicht in die Kamera.“      

Der Weg führt auf die andere Seite des Altonaer Bahnhofs, in die neue Große Bergstraße, wo einst das Leben blühte und nun etwas Undefinierbares entstanden ist, eine Fußgängerzone ohne Charme, aber vielen Bars. Charles will wieder zurück, „das ist ja eine tote Ecke hier.“ Da hat er recht, verarmte Altonaer mit merkwürdigem Slang, Digger und Alte von allen Seiten, auch viel Übergewicht springt ins Auge. Dann ein Blick auf das ehemalige Karstadtgebäude.

„Was ist denn hier passiert?“, fragt der neugierige Fotograf. Es sieht aus, als hätte eine pinselbewehrte Armee das Gebäude gestürmt.

„Hier hausen Künstler. So eine Art Besetzung. Sie nennen sich Frappant“, antwortet Noah und erinnert sich, dass ein befreundeter russischer Künstler hier in diesen Betonkatakomben ein Atelier hat.

„Dann lass uns ihn besuchen.“

Die Tore sind verschlossen.

„Pjotr!“, schreit Noah, so laut er kann. Und Pjotr lässt nicht lange auf sich warten. In einem Fenster im zweiten Stock zeigt sich ein Kopf mit langer Mähne. „Ja, ich mache auf, warte.“

Drinnen im Flur ist es genauso uncharmant und trostlos wie draußen vor der Tür. Dieses Stück Beton lässt sich offensichtlich nicht einmal mit ein wenig Kunst verschönern. Es reihen sich Tür an Tür, und du hast das Gefühl, als Buchhalter in einer großen Firma zu arbeiten. Offensichtlich wurde eine Büroetage in Ateliers umgewandelt. Aber ein Blick in Pjotrs Atelier entschädigt für die kurze Enttäuschung. Alte russische Schule, da wird noch das Handwerk geschätzt. Es riecht angenehm nach Farbe und ein geordnetes Chaos im typischen Atelierstil macht die Laune wieder top.

„Meine neue Arbeiten“, zeigt der Hausherr seine Acrylbilder. Alte Schiffe mit in Gold gehaltenem Hintergrund, ikonenhaft und doch modern. Charles ist mit seiner Kamera beschäftigt und scheint perfektes Licht zu erwischen.

Das Atelier ist ziemlich klein. „Besser als nichts“, sagt Pjotr.

Er gibt dem Künstlerkollegen einen getippten Text. Noah überfliegt ihn im Stehen und guckt hin und wieder aus dem Fenster, wie die Sonne über dem abendlichen Altona untergeht.

„Was meinst du?“, fragt der Russe.

Eine Gruppe Künstler und Historiker wollen sich in einer Woche im … wie war das noch mal … ja, im Gängeviertel treffen und womöglich dort leer stehende Häuser besetzen.

„Was ist denn überhaupt das Gängeviertel? Noch nie was davon gehört.“

„Das ist ein Viertel zwischen Musikhalle und Gänsemarkt“, weiß Charles, er fotografiert nun die beiden Künstler mit eingeschaltetem Blitz.

„Du brauchst unbedingt ein Atelier, da könntest du eins bekommen, wenn alles gutgeht.“

Sagt Pjotr und bietet seinem Besuch Kaffee an. Er trinkt seit Langem keinen Alkohol mehr, zu viel gesoffen, war nah dran abzukratzen, dafür kifft er umso mehr, aber einen Joint gibt es heute nicht.

Klick! Jetzt weiß Noah wieder, wo das besagte Viertel liegt. Er erinnert sich, mit einem Freund dort vor etwa einem Monat eine Party gefeiert zu haben. Es war sehr dunkel und irgendwie nicht ganz real in dieser Nacht. Sie mussten in einer Bar namens „Kaschemme“ die Treppen steil nach unten gehen und dann landeten sie in einem Keller voller Dunkelheit, Röhren und Ratten. Es roch seltsam. Auch das Publikum war nicht sonderlich sympathisch. Was Noah aber gefallen hatte, war der Häuserkomplex an sich, und sofort hatte er an Atelierräume gedacht.

Ein Atelier, das ist es, was ein Künstler unbedingt braucht. An welchem Ort soll er denn sonst all die Farbe auskotzen? Zu Hause, so wie er es momentan tut? Ja, das tun viele, aber das ist nicht das Wahre; man braucht einen Raum, wo man alles stehen und liegen lassen kann, und am nächsten Tag geht es dann weiter mit der Arbeit. Man braucht Abstand zu seinem Werk. Doch angesichts der explodierenden Mieten in den Städten müsse man froh sein, überhaupt eine Wohnung zu haben, hört man immer wieder.

„Wie besetzt man ein Haus?“

„Man bricht das Schloss eines zu lange leer stehenden Hauses auf und besetzt es einfach. War gang und gäbe in den 70ern“, sagt Charles, der schon aufgestanden ist und gehen will.

„Willst du bei der Besetzung nicht mitmachen?“, fragt Charles, nachdem sie das Karstadtgebäude hinter sich gelassen haben. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Eine Hausbesetzung ist immer so eine Geschichte. Er solle doch unbedingt mitmachen, ermuntert ihn sein älterer Freund. Das habe der heute renommierte Hamburger Künstler Daniel Richter auch in der Hafenstraße gemacht und sei dadurch bekannt geworden … Sei gut für die Publicity.

Damit ist das Thema vorerst erledigt. Es gibt außerdem noch ein anderes Thema, das Noah schon lange beschäftigt: Berlin. Viele Künstler ziehen nach Berlin und neulich war er auch dort und sofort verliebt in die Stadt. Er will endlich den Umzug wagen und den hanseatischen Pfeffersäcken, die mit Kunst nicht viel am Hut haben, den Rücken kehren. Berlin hat ein Herz für Künstler, Berlin ist dynamisch, Berlin ist frei, Berlin hat Geschichte.

Die Entscheidung wird vertagt. Stattdessen wird es heute ein besinnlicher Abend, mit Kochen, Trinken und DVD-Gucken.

 

Die ganze Woche scheint in Hamburg die Sonne, so intensiv, dass es, auch wenn das zu glauben schwerfällt, des Guten zu viel wird und Noah so wie viele andere die dunkelgrauen Hamburger Tage herbeisehnt, um besser arbeiten zu können und die Welt draußen zu vergessen. Denn es ist unmöglich, sich in dieser Hitze auf die Kunst zu konzentrieren.

Noah hat im Internet recherchiert und einiges über das Gängeviertel rausgekriegt. Ein Elendsviertel in Hamburgs Geschichte, wo früher Pest, Armut und Kriminalität den Tagesablauf bestimmten. Ein berüchtigtes Viertel, das völlig in Vergessenheit geraten und nun von den Behörden zum Abriss freigegeben ist. Doch was geht ihn das eigentlich an, er will eh weg aus Hamburg und sich nach Berlin absetzen.

Trotzdem geht ihm der Name Gängeviertel nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht verpasst er da doch etwas Wichtiges, vielleicht wird am heutigen Tag Geschichte geschrieben, vielleicht werden schon heute die Ateliers verteilt? Da er sich selbst entscheidungsunfähig fühlt, fragt Noah einen Freund um Rat, der ihn wie immer Freitag am späten Abend anruft. Sascha, einer der Filme machen will und meistens schweigt. Auch dieses Mal schweigt er sich am Telefon aus, stattdessen will er vorbeikommen und, wie er es immer ausdrückt, ein Bierchen trinken.

Sascha bringt Ritalin mit, ein Zeug, das er vom Arzt bekommt (Saschas Diagnose seit seiner Kindheit: ADS) und später pulverisiert in seiner Nase landet. Als Kokain oder Speed-Ersatz.

„Wollen wir eine nehmen?“, fragt er, nachdem er es sich auf dem Sofa in Noahs Wohnatelier gemütlich gemacht hat. Noah muss nicht lange überlegen, heute braucht er etwas, was seinen Blick auf die Welt in kürzester Zeit rosiger werden lässt. Sie nehmen eine und schweigen. Noah wünscht sich, Sascha würde etwas zu seinem neuen Bild sagen, aber der bemerkt es nicht einmal. Noah steht auf, um am Bild eine Kleinigkeit zu verändern. Nicht mal das bemerkt der schweigsame Freund. Noah gibt auf, setzt sich wieder und sie trinken weiter schweigend ihr Bier.

Mit folgender Maßnahme ließe sich vielleicht das Schweigen durchbrechen:

Raus aus der Wohnung, rein in die Bar um die Ecke.

Die künftige Besetzung des Gängeviertels scheint Sascha nicht wirklich zu interessieren, also wird es auch nicht zum Thema heute Abend. Sascha ist in seinem Kopf und braucht jemanden, der einfach nur neben ihm sitzt. Manchmal unerträglich, dieses Schweigen.

Es überträgt sich auf Noah und so werden die heißen Flirtblicke der Mädels in der proppenvollen Bar nur mit Schweigen beantwortet. Keine Kraft für die Show, die man heute braucht, um Frauen zu beeindrucken. Obwohl die Prise Ritalin einiges leichter machen würde.

„Na ja, um andere Künstler kennenzulernen … vielleicht.“

Er wirft Sascha den Satz unvermittelt zu. Vielleicht würde es sich allein deshalb lohnen, an der Besetzung teilzunehmen. Da war etwas dran, bis jetzt war es ihm nicht wirklich möglich gewesen, in Hamburg ein Netzwerk von Künstlern aufzubauen. Alles Individualisten, alles nur selbstherrliche Typen und Frauen, die niemals fragen, wie es dir geht, was für eine Kunst du machst, was du überhaupt vorhast. Dafür erzählen sie dir in ellenlangen Monologen, was für tolle Kunst sie selbst machen.

„Was meinst du?“

Sascha nickt. Aber auch er hat bereits Berlin im Kopf und will hier schnellstmöglich weg.

 

Der 22. August ist ein Sonntag. Bis zu diesem Tag hält es Noah im Dorf Ottensen. Schon seit er da wohnt, hat er das Gefühl, kaum aus diesem Stadtteil rauszukommen. Wozu auch, es gibt dort alles, was ein Künstlerherz begehrt, die Elbe inklusive. Aber diese Ernsthaftigkeit, die da inzwischen herrscht, kann einen in den Wahnsinn treiben. Besonders abends vor den Bars, herumstehende Menschen, die nur noch mit ihren Bierflaschen flirten. Die Neuyuppies. Die Themen dieser Leute kreisen nur noch um Karriere und Geld, und natürlich um das, was gestern im Privatfernsehen lief. Alleine wegen dieser Leute sollte er dem Viertel endlich den Rücken kehren und zu dieser Hausbesetzung gehen. Das wird bestimmt aufregend. Außerdem ist die ganze Stadt voll von diesen kleinen runden roten Aufklebern mit der weißen Schrift:

Komm in die Gänge. 22.08.09.

Diese Zahlen beginnen langsam ihre Wirkung zu entfalten, als wären sie pure Magie. Die Aufregung lässt sich nicht mehr verleugnen.

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